BRIEF #97
Lieber A., Deine S.
Lieber A.,
gerade habe ich in unseren Briefe geblättert, quer und auch wieder neu gelesen, was du mir geschrieben hast.
Dein erster Brief dieses wunderbaren Austauschs handelt vom Krieg, von Zeitenwende, von Paradigmenwechsel, von Verzweiflung. So viel Zeit ist seit diesem ersten Brief ins Land gegangen und ich kann es nicht fassen, dass wir noch immer an derselben Stelle sind: Es ist Krieg.
Es ist Krieg und ich habe das Gefühl, er breitet sich aus. Er vergiftet alles und alle. Er macht das nicht-für-möglich-gehaltene zur Realität, verschiebt die Grenzen, das Denken, die Kommunikation. An manchen Tagen macht mir das Angst. An manchen Tagen kann ich es nicht fassen, wie viel Glück wir haben, dass wir nicht direkt betroffen sind. An manchen Tagen kann ich nicht fassen, dass wir einen alltäglichen Umgang mit den Kriegen um uns finden. An manchen Tagen sehe ich gar kein Ausweg. Politisch. Strategisch. Inhaltlich. An manchen Tagen denke ich, die Kommunikation ist vergiftet und zwar überall: Wohin ich höre und sehe ist Konflikt, ist Krieg im Kleinen. Kein gutes Klima. Die Fronten sind verhärtet. Die Erregung erregt. Die Geduld am Ende. Angst ist überall und wird überall verstärkt. Ich verstehe, wenn Menschen darüber verzweifeln.
Heute, ich schreibe Dir am 10. September, ist der Welttag der Suizid-Prävention. Jedes Jahr sterben in Deutschland circa 9000 Menschen durch Suizid. Mehr Menschen sterben also durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten und illegale Drogen. Der Tag ist ein Tag der Trauer und des Gedenkens an die durch Suizid Verstorbenen.
Ich gedenke heute. Ich bin traurig. Es sind einige Menschen in meinem Umfeld nicht mehr da, weil sie es so entschieden haben.
Ich wünschte, ich könnte mehr tun.
Pass auf Dich auf!
Deine S.
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