BRIEF #96
Liebe S., Dein A.
Liebe S.,
auf Reisen kommt man leicht auf andere Gedanken über das Reisen als daheim. Vom Alltag aus ist es meist die Aussicht auf Veränderung, auf einen Tapetenwechsel, auf Neues oder Vertrautes, ganz nach Ziel. Wenn man aber unterwegs ist, wenn die Sinne mit jedem Kilometer freier und klarer werden, kommen einem viele Erlebnisse und Begegnungen früherer Tripps in den Sinn. Berauschende. Erbauliche. Prägnante. Auch Beklemmende.
So dachte ich dieser Sommertage an eine Situation, deren Augenzeuge ich vor vielen Jahren in Barcelona wurde. Vor einer dieser selbstreinigenden Toilettenkabinen am Ende der Ramblas, unten am Hafen, waren Sicherheitskräfte damit beschäftigt, einen Leichnam zu bergen. Der leblose Körper lag auf dem Asphalt und war gänzlich bedeckt. All die ärmlichen Habseligkeiten daneben ließen darauf schließen, dass es sich bei dem Verstorbenen um einen Obdachlosen handeln musste. Kein Postkartenmotiv. Das einsame triste Ende eines Menschen, der vom Wege abgekommen war, wie gesagt wird. Und doch ein Sterben ohne Passanten, ohne abschätzige Blicke. In der Intimität einer WC-Kabine aus Edelstahl. Als diese dann von außen geöffnet wurde, war alles vorbei.
Aber dieses Bild habe ich mitgenommen.
Dein A.
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Briefe vom Anfang über das Ende
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Ein fiktionalisierter Briefwechsel über den Tod und das Sterben von Andreas Kaufmann und Sabrina Zwach