BRIEF #95
Lieber A., Deine S.
Lieber A.,
ich schreibe Dir aus Weimar, die Sommerferien treiben uns in verschieden Richtungen an ganz verschiedene Orte. Du bist in Südfrankreich, ich in Mittelthüringen, beides klassische Sommerfrischen.
Heute stand ich auf meinen Spaziergängen vor der Villa Haar am Rande des Weimarer Goetheparks, ich liebe dieses hochherrschaftliche Gebäude. Die Villa wurde 1885 von dem Architekten Otto Minkert nach dem Vorbild der römischen Villa d‘Este entworfen. 1905 erwarb sie der Weimarer Textilkaufmann und Hoflieferant Otto Haar. Seitdem diente das Haus der Familie bis 1945 als Wohnsitz. Ihr letzter Eigentümer, der Rechtsanwalt, Kaufmann und Sammler Dr. Georg Haar, setzte am 6. Juni 1945 seine Vaterstadt testamentarisch zur alleinigen Erbin der Villa, des Kaufhauses Max Haar und seiner anderen Immobilien ein. Er bestimmte durch Auflagen, dass die Villa künftig als Heim für verwaiste Kinder genutzt werden sollte.
So weit so nobel. Hintergrund dieser großzügigen Spende, ist jedoch – du ahnst es – ein trauriger Anlass.
Am 22. Juli 1945 schieden Georg Haar und seine Ehefrau Felicitas freiwillig aus dem Leben. Sie hatten ihre Söhne im 2. Weltkrieg verloren und sahen keinen Grund mehr, weiterzuleben.
Die Villa ist also heute in eine Stiftung. Im Haus selbst befand sich eine umfangreiche Bibliothek. Die Büchersammlung Georg Haars steht heute in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Es sind knapp 1000 Bände, darunter zahlreiche schön gedruckte und illustrierte, handgebundene und größtenteils wertvolle Bücher aus dem Zeitraum zwischen 1890 und den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts.
Ich wollte Dir diese Tragödie schreiben. Tief berührt spazierte ich von der Villa Haar aus zurück in die Stadt, zur Anna Amalia Bibliothek und dann ins Café.
Ich schicke Dir viele Grüße.
Pass auf dich auf und genieße die Tage mit den Kindern
Deine S.
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