BRIEF #75
Lieber A., Deine S.
Lieber A.,
ich schreibe dir ganz aufgeregt, denn ich habe Montaigne wiedergelesen und die Zeitumstände zu verstehen versucht. Um ihn tobte die Pest und raffte so viele Menschen hinweg. Seinen besten Freund hat er wohl verloren, er ist an der Pest in seinen Armen gestorben. Montaigne hat sich auf einen Satz, der bereits bei den griechischen Philosophen der Antike eine Rolle spielte, konzentriert: "Philosophieren heißt sterben lernen". Michel Montaigne hat 1580 ein gleichnamiges Essay geschrieben und ich möchte Dir ein paar Zeilen daraus senden.
Der Tod ist unvermeidlich. [...] Das Ziel unseres Lebenslaufes ist der Tod; zwangsweise richten wir unseren Blick auf ihn: wenn er uns erschreckt, wie können wir da einen Schritt ohne Schaudern gehen? Was tut der gemeine Mann dagegen? Er denkt nicht daran; aber welch tierischer Stumpfsinn gehört dazu, einer so groben Verblendung zu erliegen? [...] Wenn ihr das Leben genutzt habt, könnt ihr gesättigt und befriedigt scheiden. Und wenn ihr nichts damit habt anfangen können, wenn ihr es nutzlos vertan habt, da kann es euch doch erst recht gleichgültig sein, wenn es weg ist; was wollt ihr denn noch damit? An sich ist das Leben nichts Gutes und nichts Böses; es ist der Hintergrund, auf dem ihr selbst Gutes und Böses anbringen könnt. Und wenn ihr einen Tag gelebt habt, habt ihr alles gesehen, was zu sehen ist: ein Tag ist wie alle anderen Tage. Das Licht und die Nacht sind immer die gleichen, es gibt keine anderen: unsere Sonne, unser Mond, unsere Sterne, unser Weltgebäude, es ist alles das gleiche, an dem sich eure Vorfahren erfreut haben und das auch eure Urenkel wieder erfreuen wird. [...] Beim Tod, wann er auch eintritt, ist euer ganzes Leben zu Ende. Man kann den Wert eines Lebens nicht nach der Länge messen; er ist vom Inhalt abhängig. Manches lange Leben ist inhaltslos. Nutzt es, solange ihr es in den Händen habt: von eurem Entschluss, nicht von der Lebensdauer hängt es ab, ob ihr euch mit dem Gedanken abfindet: wir haben genug gelebt. Ihr könnt doch nicht erwarten, dass ihr das Ziel, auf das ihr immer zugingt, nie erreichen würdet?
Beängstigend und befreiend empfand ich die Zeilen, die ich unbedingt mit Dir teilen wollte. Und ich habe das Essay als eine Anfeuerung verstanden, das Leben mit Inhalt zu füllen.
Inhalt kann jedoch alles sein, möchte ich Montaigne zurufen. Wie bewerte ich Inhalt? Welche Art Inhalt? Welche Fülle?Welche Motivation?
Ich denke darüber nach und schicke Dir dabei viele Grüße.
Pass auf dich auf!
S.
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Ein fiktionalisierter Briefwechsel über den Tod und das Sterben von Andreas Kaufmann und Sabrina Zwach