Liebe S.,

am zweiten Tag des neuen Jahres, ist mein Vater verstorben.

Er ist, nach 95 Jahren auf Erden, in der Früh zu Hause friedlich eingeschlafen.

Bis kurz vor Weihnachten stand er noch in seinem Leben. Am Nachmittag des Heiligen abends waren wir beiden Söhne und alle Enkelkinder um ihn versammelt, auch wenn der alte Herr da schon müde war. Ein Infekt ließ ihn seit ein paar Tagen husten und er hatte eine Tablette mehr zu nehmen als sonst. Volles Haus.

Am ersten Weihnachtsfeiertag fing er an, weniger zu werden. Er wollte von einem Moment zum anderen nicht mehr essen und wurde schwach und schwächer. Mein Bruder und ich wechselten uns ab und waren die ganzen nächsten Tage und Nächte bei ihm und für ihn da. Schließlich mußte er sich hinlegen. Kurz vor dem Jahreswechsel kam seine Betreuerin wieder, die über die Feiertage bei Ihrer Familie gewesen war. Das freute und beruhigte ihn. Zuletzt war er fast nur für sich. Mit geschlossenen Augen und Atemzügen von wechselnder Intensität. Es gab keine großen Worte mehr. Aber Nähe und Berührungen. Eine gute Verbindung. Es war ein unaufgeregter Abschied. Getragen von einem unerschütterlichen Gottvertrauen, das sich mein Vater stets bewahrt hatte. Und schließlich haben meine Kinder den gerade eingeschlafenen Opa gestreichelt.

Gebetsmühlenartig wiederhole ich nun für mich und andere, dass ich traurig bin, aber auch gelöst und dankbar. Das Sprechen hilft mir, stumpft aber auch ab. So schreibe ich es Dir nun. Schreiben hilft, zu verstehen.

In der kommenden Woche werden wir unserem Vater und Großvater mit einer Trauerfeier einen würdigen Abschied bereiten. Und ihn hernach im engsten Familienkreis beisetzen.

Nun habe ich keine Mutter und keinen Vater mehr. Fortan leben keine drei Generationen mehr unter unserem Dach. Eine Zeit der Veränderung hat begonnen.

Der Tod ist Veränderung. Veränderung ist Leben.

Am 4. Advent haben wir noch Austern verspeist. Eine ewige gemeinsame Liebhaberei. Er mochte es, mir bei Öffnen zuzuschauen und die Schalentiere dann zu schlürfen. Auch weil ihm jede Auster stets so etwas wie ein Souvenir war. Dieses Mahl wird mir das letzte pralle Bild von uns beiden bleiben. Für immer. Schöner hätte ich es mir nicht wünschen können.

Dein A.

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