BRIEF #37
Lieber A, deine S
Lieber A.,
vor ein paar Tagen ist der Vater einer Freundin gestorben.
Er war zwar inmitten einer Krebstherapie, aber alle Zeichen standen positiv und wenn die Krankheit auch diagnostiziert wurde, wurden alle vom plötzlichen Tod auf traurigste Weise überrascht. Nachdem ich den ersten Schock verdaut hatte, in dem ich mir vorstellte, welch bleierne Stille und Verzweiflung die Familie nun umgibt, dachte ich: "Und das so kurz vor Weihnachten!" Ich ärgerte mich im selben Moment über den Gedanken, denn der Schmerz und die Verzweiflung sind an einem sonnigen Junitag genau diesselben. Und doch fühlt sich die Trauer an Weihnachten noch einmal anders an. Die Familie - oder eben das, was jede Person für sich als Familie definiert - kommt zusammen und dies Zusammensein ist aufgeladen, ist besonders. Wenn eine Person aus dem Kreis herausgerissen wird und eine Lücke, eine Wunde entsteht, wirkt jede Kerze, jedes Lied, jedes Geschenk nicht akzeptabel oder verschlimmert den Schmerz, den man ohnehin nicht ertragen konnte, und macht ihn noch tiefer.
Andererseits ist es mir an jedem Weihnachtsfest wichtig, von den Verstorbenen zu sprechen. Nur über die Erzählungen unter Freunden, entsteht so etwas wie ein Leben nach dem Tod für mich. Unter den Freunden will ich später gefunden werden, wenn ich tot bin. Dort würde ich gerne lauschen, wie Anekdoten zum Besten gegeben werden. Welche Macken empfinden alle in der Familie als besonders anstrengend oder als besonders eigen? Jetzt würde mir das keiner sagen, da bin ich mir sicher.
Das Fest der Liebe kommt also auf uns zu, mein lieber A. und ich werde auch in diesem Jahr für jede Person, die ich vermisse, eine Kerze anzünden und ein bisschen am Leben nach dem Tod arbeiten, vielleicht nur für mich, vielleicht für die Toten.
Vielleicht hilft es?
Sei umarmt und pass auf dich auf!
Deine S.
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Ein fiktionalisierter Briefwechsel über den Tod und das Sterben von Andreas Kaufmann und Sabrina Zwach