BRIEF #24
Liebe S, Dein A
Liebe S.,
der ‚größte Abschied der Weltgeschichte‘ liegt hinter uns. 4 Milliarden Menschen sollen, in welcher Form auch immer, die Trauerfeierlichkeiten für Elisabeth II verfolgt haben. Kaum zu glauben.
Und nun ist wieder Alltag in unseren kleinen Leben eingekehrt. Ich bereite mich auf den Besuch einer Beerdigung vor.
Morgen fahre ich in in die Champagne. Mit dem Auto werde ich viereinhalb Stunden brauchen.
Ein Freund der Familie ist verstorben. Aber das greift zu kurz.
Er war der älteste Sohn des Patrons, bei dem mein Vater als Kriegsgefangener zu arbeiten hatte. Die Amerikaner, die die deutschen Soldaten festgesetzt hatten, boten diese in Reims den Landwirten als Arbeitskräfte an. Mein Vater war damals ein junger Kerl. Er ging mit Monsieur Robert.
Das ist über 75 Jahre her. Mit einem tiefen Stolz erzählt er immer wieder, wie er sich auf dem Hof hochgearbeitet hatte und bald für die Pferde zuständig war. Irgendwann durfte der Feind zum Essen am Tisch der Familie Platz nehmen. Der nun gestorben Pierre war noch ein Junge.
3 Jahre war mein Vater dort. 3 Jahre, die ihn einnahmen für Frankreich, für die Menschen, für die Sprache, gar für die Landwirtschaft. 3 Jahre vor allem aber, in denen eine großartige Freundschaft begann. Die Freundschaft, wegen der ich mich morgen auf den Weg in das Dörfchen Saudoy mache.
Die Verbindungen, die aus dem verheerenden Weltkrieg erwachsen sind, hielten und halten über die Jahrzehnte und über Generationen hinweg. Hochzeiten, runde Geburtstage, auch Beerdigungen prägen die Erinnerungen an das Miteinander. Enkelkinder, die bei uns gastierten, um Deutsch zu lernen. Gegenseitige Besuche aus der Lameng. Ich bin mit dieser Freundschaft aufgewachsen und je älter ich wurde, umso mehr wurde sie für mich auch ein Symbol der Hoffnung auf Gutes. Längst fühle ich mich mit den Kindern der Kinder des Patrons freundschaftlich verbunden. Auch darum, möchte ich morgen adieu sagen.
Ich will noch alles richten für meine Fahrt : Den schwarzen Anzug und ein weißes Hemd, die Krawatte. Die Schuhe sind noch zu putzen. Die Sohlen dürfen nicht zu dünn sein, sonst kann die Kälte von unten her in einen hineinkriechen. Ein Mantel. Der Herbst kommt schon kalt daher. Vielleicht ein Schal. Vor allem die richtigen französischen Worte. Wenige Worte sind passend. Den Wagen habe ich schon getankt.
Ich habe das Gefühl, die Familie freut sich, wenn ich komme. Mit den herzlichsten Grüßen meines Vaters, der solche Reisen nicht mehr macht, im Gepäck. Mit Namen tut er sich mittlerweile schwer. Aber anhand des Gruppenbildes, das anläßlich seines 90. Geburtstages gemacht wurde, wurde alles klar. Einige der Gäste von damals, 5 Jahre ist es her, sind inzwischen gestorben. Nun einer mehr.
In der Nacht lag ich lange wach. Stundenlang wohl, auch wenn ich nicht auf die Uhr geschaut habe. Ich lag da. Müde, aber nicht willens oder in der Lage aufzustehen. In meinem Kopf ein Ringelreihen von Gedanken und Bildern und Personen. Unordentliches, Unerledigtes, Unausgesprochenes. Wie Dominosteine - kippt einer, stößt er den nächsten an. Und irgendwann, womöglich auch wegen der bevorstehenden Trauerreise, war der Tod an der Reihe.
Früher dachte ich mal, kam mir in den Sinn, so könnte es sein, wenn man tot ist. Man liegt da und der Kopf tut einfach weiter. Nur der Kopf. Der Körper ist ja tot. Mittlerweile weiß ich nicht mehr, was ich von dieser Idee halten soll.
Aber ich glaubte ja auch, dass ich nicht alt werden würde, ging mir wieder einmal durch den Kopf. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Tatsächlich bin ich ja schon too old to die young.
Ob wohl schon mal jemand auf dem Weg zu einer Beerdigung tödlich verunglückt ist ? Warum nicht. Es gibt ja nichts, was es nicht gibt. Und bestimmt Statistiken hierzu.
Irgendwann muß ich mich dann doch müdegehirnt haben. Jedenfalls bin ich um halb sieben müde wieder aufgewacht.
Morgen also mache ich mich auf den Weg nach Frankreich. Noch einmal schlafen.
Ich darf nicht vergessen, in der Früh den bunten Trauerkranz abzuholen, den ich im Namen unserer Familie habe binden lassen.
‚L’amitié perdurera‘ wird auf der Schleife stehen. Die Freundschaft wird weiterleben.
Für immer,
Dein A.
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