Lieber A.,

gestern habe ich in der Hitze einen Spaziergang durch die Stadt unternommen.

Auf dem Rückweg habe ich von weitem schon das Flatterband gesehen, das quer über unsere Straße gespannt war. Davor war ein Paravent aufgebaut, ein Rettungswagen, zwei Polizeiwagen mit Blaulicht standen da.

Der Anblick hat mir sofort einen Riesenschreck eingejagt. "Ist der Rest der Familie in Sicherheit?“, ist mir sofort durch den Kopf geschossen und mein Puls ging schnell.

Als ich näher an das Flatterband kam, hörte ich, wie zwei Polizistinnen mit einigen Passanten sprachen. Die Passanten wollten durch, die Polizistinnen waren genervt. „Hier ist gerade ein Mensch gestorben, also tun sie mir den Gefallen und gehen außenrum und hören Sie auf zu glotzen!“. So viel konnte ich noch hören. Ich bin dann außenrum gegangen. Alle in dieser Situation taten mir so wahnsinnig Leid. Ein Sonntag im August, das Wetter ist toll, Ferienstimmung liegt über der Stadt und dann stirbt eine Person an einer Kreuzung, weil eine andere Person nicht richtig hingeguckt, nicht richtig aufgepasst hat, für einen Moment, vielleicht eine Sekunde?

Diese eine Sekunde entscheidet dann über Tod und Leben. Und dann stellt ein Arzt oder ein Ärztin den Tod fest und ein Polizist oder eine Polizistin ruft eine Nummer an, an der eine Partnerin oder ein Vater oder ein Kind ist und muss die furchtbare Nachricht übermitteln. Dann wird die Schuldfrage geklärt. Vielleicht Schmerzensgeld berechnet und ausbezahlt. Das passiert ständig. Ich weiß, dass diese Verletzlichkeit, die Endlichkeit über allen und allem liegt und doch vergesse und verdränge ich sie oft genug. Dass ich sie verdrängen kann, ist sicherlich überlebenswichtig und dennoch erscheint mir die Tatsche monströs, immer wieder, wenn ich sie sehe und begreife.

Es herrschte Stille in der Strasse. Für mehrere Stunden war Stille. Dann fuhren die Rettungskräfte weg und das Flatterband wurde abgenommen und ein Auto und ein Motorrad blieben zerbeult zurück, wie abgelegte Rüstungen. Markierungen, die auf die Straße gemalt wurden blieben zurück. Die Autos fuhren wieder über die Kreuzung. Das Leben ging an dieser Kreuzung weiter und für alle Beteiligten, Opfer und Täter, wenn die Begriffe überhaupt passen, hat das Leben ab diesem Sonntag im August eine absolut neue unvorhersehbare Wendung genommen. Unumkehrbar. Nicht wieder gut zu machen. Radikal. Tot.

Meine Gedanken sind erfüllt von dem Bild. Ein Unwohlsein begleitet mich.

Ich wollte das mit Dir teilen.

Pass auf dich auf!

Deine S.

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