BRIEF #18
Liebe S, Dein A
Liebe S.,
Dein letzter Brief. Ein Gedicht.
Denn auch ich wollte Dir schon von gereimten Zeilen schreiben, die ich als junger Mensch an einem Totenbett verfasst habe.
Im Sterbezimmer. So sagen wir in unserer Familie. Früher war es mein Kinderzimmer gewesen. Nach dem Sterben viele Jahre lang mein Schlafzimmer. Heute ist es das Reich meiner Tochter mit Grundschulschreibtisch und Bergen von Playmobil. Dort hört man die satten Glocken der benachbarten Stiftskirche am klarsten.
Im Sterbezimmer lag Tante Hann. Friedlich aufgebahrt, die Hände gefaltet.
Sie war die Schwester meines Großvaters und hatte nicht nur ihren Mann sondern auch ihre Tochter überlebt und fand am Ende eines langen Daseins bei uns ihr letztes Zuhause. Ihre Kräfte waren aufgebraucht, als sie starb.
Als ich das Zimmer betrat war alles friedlich. Um Ihren Kopf hatte sie eine weiße Serviette gebunden, damit der Mund geschlossen blieb bis die Totenstarre gänzlich eintreten sollte.
Ich setzte mich neben Sie und betrachtet lange und eindringlich ihr Gesicht. Ihre Hände. Den leblosen Körper. Die ganze Szene ist in meiner Erinnerung viel weißer, als sie wohl gewesen sein kann. Leichenblässe.
Gleich darauf habe ich das Gedicht ‚Die Tante ist tot‘ geschrieben.
In den Jahre danach habe ich es immer wieder hervorholt und gelesen. Tatsächlich hat es mich jedes Mal angesprochen.
Leider finde ich das Gedicht nicht mehr. Zu viel Räumen in den vielen Räumen. In irgendeiner Kiste steckt es, soviel ist sicher. Nur ein Stück Papier, ganz ohne Sicherungskopie. Bestimmt fällt es mir eines Tages wieder in die Hände. Dann lese ich es Dir vor.
Gerührt von dieser Berührung im Geiste, vom Gleichmut des Dichtens,
Dein A.
P.S. : Kannst Du Dich noch an den Taxiwarteraum erinnern ?
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Ein fiktionalisierter Briefwechsel über den Tod und das Sterben von Andreas Kaufmann und Sabrina Zwach