BRIEF #16
Liebe S, Dein A
Liebe S.,
ich lese noch Zeitung. An jedem Morgen. Tageszeitungen. Eine von hier und eine für Deutschland. So richtig auf Papier. Mit Geraschel und dem Ausreißen von interessanten Artikeln und guten Bildern und mit frischen Spuren vom abgestellten Kaffeebecher. Dass die Zeitung schon einen weiten Weg zurückgelegt hat, stört mich nicht im geringsten. Im Gegenteil. Hauptsache sie ist früh da.
In der Regionalzeitung entscheidet der Lokalteil. Und hier ist es die Seite mit den Todesanzeigen, die wirklich zählt.
Der Tod wird angezeigt. Mitmenschen werden über das Ableben in Kenntnis gesetzt. Als die morgendliche Zeitungslektüre allerseits noch wichtig war, diente das, was dort geschrieben stand, als Grundlage des Austauschs unter den Leuten.
Mein Blick fliegt über die Namen der angezeigten Toten, um zu prüfen, ob ich einen davon kenne. Als Bestätigung der Nachricht, die schon von Mund zu Mund unterwegs war oder als ordentliche Überraschung.
In der Mehrzahl handelt es sich um alte Menschen, was einen nicht weiter überraschen will. Menschen, die auf ein langes Leben zurückblicken konnten. Aber es sind auch immer wieder Schicksale dabei, die für den Moment anrühren. Gleichaltrige. Junge Leute. Auch Kinder. Aus dem Leben gerissen durch eine schwere Krankheit, die am Ende gesiegt hat. Oder durch einen tragischen Unfall. Und nicht zuletzt weil einer den Frieden finden konnte, den er solange gesucht hatte.
Oft hilft das Foto des Verstorbenen bei der Einordnung. Diese Bebilderung hat schon seit geraumer Zeit den Platz eingenommen, den christlichen Symbole freigemacht haben. Das Kreuz oder die betenden Hände sind nicht mehr beliebt. Das Religiöse ist auch bei Todesanzeigen auf dem Rückzug.
Organisatorische Hinweise helfen denen, die dem Toten das letzte Geleit zu geben gedenken. Auffällig ist, das das Ableben immer öfter erst nach der Beisetzung veröffentlicht wird, weil der engste Familienkreis zunächst in aller Stille Abschied nehmen wollte. Die Trauerfeier fällt dann aus. Gefühlt geht dieses heimelige Ritual auf die Umwälzungen zurück, die die Beerdigungskultur während der großen Pandemie erlebt hat.
Gerne wird ein Zitat oder ein Sinnspruch über alles gestellt, die Zeile eines Songs, ein Lebensmotto, das Fazit. Ob der Verstorbene diese Worte selbst gewählt hat oder ob sie ihm von denen, die die Anzeige beauftragt haben, ausgewählt wurde, bleibt für den außenstehenden Betrachter meist unklar.
In jedem Fall lohnt es sich stets auch zwischen den Zeilen zu lesen. Wer muß wen gehen lassen. Stimmt die Reihenfolge ? Wer gehörte und gehört zusammen und wer zu den Unterzeichnern. Welche Kreise zieht der Tod ? Da ist die Familie. Natürlich. Selten steht sie näher zusammen und so gut sortiert untereinander.
Todesanzeigen und alles um sie herum, bauen auch heute noch auf kulturelle und gesellschaftliche Normen, solange es diese noch gibt. Denn flankierend wird nachgerufen. Der Arbeitgeber dankt für treue Dienste, Freunde für die Freundschaft und Vereine für den beherzten Einsatz. Je mehr Verdienste, desto mehr Worte. Je wichtiger der aus dem Leben geschiedene war, desto zahlreicher sind die Nachrufe. In überregionalen Zeitungen mit landesweiter Verbreitung wird das Ganze nicht nur wesentlich teurer, sondern vielmals auch deutlich beeindruckender, möchte man meinen.
Ganz frei von alledem ist da wohl nur der, der gar keine Angehörigen hat. Wie der Mann, den ich flüchtig kannte, der in fröhlichem Ton per Anzeige über sein Ableben informierte und sich auf diese Wege von allen, die ihn kannten, verabschiedete.
Wie alle Neuigkeiten findet auch Verbreitung eines Todesfalles heutzutage in den sozialen Medien ihren zügigen Weg. Wenn die Nachricht nicht von offizieller Seite kommt, kann man rasch nicht mehr ausmachen, wer den Stein ins Wasser geworfen und so eine virale Kondolenzwelle ausgelöst hat. Über deren Wucht entscheiden allemal die Follower. Jedenfalls geht es im Netz kaum mehr ohne ein vielstimmiges R.I.P., das in meiner Erinnerung mit Michael Jackson begann.
Aber was wird aus der Todesanzeige, wie wir sie kennen? Wird sie aussterben? Wird sie zusammen mit der Tageszeitung auf dem Frühstückstisch untergehen? Und ist das dann endlich der Untergang des Abendlandes?
Den dereinst allerletzten Wurf, die Todesanzeige der Todesanzeige sozusagen, könnte dann doch bitte endlich - damit es nicht zu ernst wird - mein liebster Kalauer schmücken :
Alles hat ein Ende nur die Wurst hat zwei.
Auf den warte ich schon lange.
Belesen,
Dein A.
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Ein fiktionalisierter Briefwechsel über den Tod und das Sterben von Andreas Kaufmann und Sabrina Zwach