Brief #15
Lieber A.,
ich schicke Dir heute Fotos vom Lago Maggiore.
Dort habe ich in Vira einen schönen kleinen Friedhof gefunden. Eidechsen huschen über die Gräber und das verdörrte Laub raschelt, sobald man die wenigen Schritte über den winzigen an der Strasse liegenden Ort betritt. Ich habe mir die Namen durchgelesen und die kleinen Portraits angesehen, die Plastikblumen und das Sammelsurium an Gedenkgegenständen und dann bin ich in eine Scherbe getreten, eine Glasscherbe, ein Weinglas muss umgefallen sein. Vielleicht hat ein Mann das Glas installiert, weil er regelmässig vorbei kommt und ein Schlückchen bei seiner toten Frau nippt?
Als ich mich wieder auf den Weg machte, meinen Schnitt verpflastert hatte, hatte ich einen Gedanken:
In sterben steckt erben. Und Scherben sind da doch auch drin?
Da ist etwas zerbrochen, ein Ganzes in seine Bestandteile oder die unvollständigen oder gar vollständige Anzahl von Einzelteilen. Nicht mehr zusammensetzbar. Da hat sich ein Ende manifestiert, von einem Zustand in den Nächsten. Scherben sind der Beweis, dass wenn etwas kaputt ist, es immer noch existent ist, nur in andere Form. So wie es uns den Vorgang des Sterbens veranschaulicht. Scherben sind in Materie gefasstes Sterben? Bringen sie Glück?
Und das Erben? Wir vererben und erben Immatrielles und Matrielles. Manche Personen hinterlassen einen Scherbenhaufen, manche alles wohlgeordnet, manche nichts, manche unfassbar viel.
Mein Bruder hat an seine Kinder Gesten und Handbewegungen vererbt, die seine Kinder nicht abgeguckt, nachgeahmt haben können, da er gestorben ist, als sie noch zu klein waren. Es ist beglückend und durchfährt mich immer wieder aufs Neue bis ins Mark.
Was vererbe ich? Gedanken? Eine Haltung zur Welt? Oder eben ausschließlich körperliche Merkmale?
Und das Materielle Erbe. Ich weiß nicht, wie es Dir geht, aber ich verbinde damit stets Ärger und Nebenkriegsschauplätze.
Es geht sehr oft um Liebe, aber verhandelt wird Geld. Ein Erbe oder eine Erbin, verhandelt eben beispielsweise im Moment des Erbens, sein oder ihr Verhältnis zum Verstorbenen. Wurde er oder sie gesehen, gewertschätzt, geliebt? Gab es Ungerechtigkeiten in der Kindheit? In den seltensten Fällen sagen alle Erben: "Mir Wurscht! Ich habe gar keine Erwartungen und freue mich über Alles, was ich bekomme und gönne alle Anderen auch alles". Oder kennst du solche Situationen?
Die juristische Worte sind auch besonders, "Nachlass" zum Beispiel. Da lässt etwas nach, vielleicht ein Gefühl? Vielleicht ein Druck? Vielleicht eine Kraft?
Ich sehe auf meine Schnittwunde am Fuß. Sie schließt sich schon. Puckert noch. Wäre es nur so einfach mit der Trauer. Ich schicke Dir herzliche Grüße
Deine S.
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Ein fiktionalisierter Briefwechsel über den Tod und das Sterben von Andreas Kaufmann und Sabrina Zwach