Lieber A.,

Heiner Müller soll einmal morgens vor dem Spiegel gesagt haben: "Ich kennen dich nicht, ich wasche dich trotzdem". Ich verstehe das Zitat erst jetzt, wo die Spuren des Älterwerdens ablesbar werden. Es ist der Tot, der aus meinem Gesicht hindurch blickt und ich kann ihn im Spiegelbild durchblitzen sehen. Ich habe Angst.

Im Inneren ist das Kind, die Jugendliche, die junge Frau, die mittelalte Frau: Alle Phasen sind noch da, abgelegt, gleichzeitig vorhanden.

Äußerlich ist da eine Person, die mir nichts sagt, die ich kaum erkenne, die ich bin. Ich hatte doch ein anderes Kinn? Meine Haut war doch anders. Das ist doch nicht meine Haut.

Das sind doch nicht meine Haare? Meine Knie? Wo sind meine Kniee hin?

Und dann die Scham vor diesen Gedanken und Gefühlen. Ich finde mich so lächerlich. Ich weiß es doch, dass es eine Gnade ist, noch da zu sein. Ich habe doch schon so viele Freunde verloren, meinen Bruder. Was soll das Selbstmitleid also? Was soll das Gejammer über Falten und Flecken und über graue Haare? „Ernsthaft?", frage ich mich dann, "bist du das? Du bist so lächerlich!"

Und dennoch habe ich die Gedanken und ich denke als nächstes, dass sie daher kommen, dass sterben und altwerden einfach nicht sein sollen. Es ist wirklich uncool dieses Sterben. Das sind keine Themen.

Wenn du also Falten hast, dann, weil du rauchst oder trinkst oder dich zu wenig bewegst. Wenn du graue Haare hast, dann, weil du sie nicht färbst. Schauspielerinnen sind nicht operiert, sondern trinken viel Wasser. Ganz locker.

Ich bin nicht locker, vielleicht bin ich deshalb knubbelig und faltig?

Bei der Arbeit kommt auch gar nicht das Gefühl auf, dass ich nun Erfahrungen gesammelt habe und diese weiter geben könnte, dass ich ernten kann, was ich gesäht habe. Wo denkst du hin, mein lieber A.?

Ich versaue den Altersschnitt. Es ist so, ich übertreibe nicht. Und dabei bin ich ja noch nicht mal so richtig alt. Was ist das überhaupt? Was ist so richtig alt für Dich? 90? Kennst du einen 100-jährigen Menschen?

Wie alt willst du werden? Hast du das schon mal berechnet? Ich will 90 werden, mindestens. Ich will richtig lang leben. Ja, das stimmt, ich will richtig lang leben.

Ich habe dir ein Foto beigelegt vom Bestatter in Hamburg. Da bin ich gerade.

Sein Slogan ist „BESTATTUNGEN FÜRS LEBEN“. Doll, oder?