BRIEF #07
Liebe S, Dein A
Liebe S.,
am Zentralfriedhof is‘ Stimmung, wia‘s sei Lebtoch no net wor.
Ich mag diese Stimmung. Ich habe den Zentralfriedhof immer wieder besucht, wenn ich in Wien war. Und so habe ich mich mächtig gefreut, dass Du mir von dort geschrieben hast.
Mein Zentralfriedhof ist fußläufig erreichbar. Hier in unserer kleinen Stadt heißt er Bergfriedhof. Und er ist besonders schön. In Terrassen an den sonnigen Hang des Hausbergs geschmiegt.
Hierhin wandle ich, wenn es mir besonders gut geht. Oder besonders schlecht. Oder einfach zwischendurch. Hier kann ich meine Mutter besuchen. Mit Ihr sprechen, mit ihr schweigen. Vor ihr weinen. Zusammen lachen. Sie ist immer da. Als ich zu erstem Mal Vater wurde, war mein erster Gang an ihr Grab. Sie war ein halbes Jahr zuvor gestorben.
Und ich kann auch bei Deinem Bruder vorbeischauen, der noch jung war als er aus dem Leben gerissen wurde. Ich kann bei alten Freunden verweilen und bei der buckligen Verwandtschaft, bei lokalen Größen und an den rührenden Kindergräbern. Bald kenne ich mehr Tote als Lebendige. Fluch und Segen der Kleinstadt, die auch Heimatstadt ist - man muss sich immer mit den selben Leuten herumschlagen, tot oder lebendig.
So wie mit Herrn Ellerwald, den ich nie zu Gesicht bekommen habe. Er hatte seine Frau verloren und hat bei der Gelegenheit auch seinen eigenen Namen mitsamt Geburtsjahr auf dem Grabstein verewigen lassen. Er hat sie einige Jahre überlebt. Neben der Grabstätte hatte er einen roten alten Gartenstuhl aus Holz gestellt. Dort sass er sicher immer, wenn er sie besuchte. Ich bin oft an diesem Grab vorbeigekommen. Eines Tages war der Stuhl verschwunden und sein Leben war zu Ende. Mittlerweile ist das Grab abgeräumt. Die Ruhedauer ist offensichtlich nicht verlängert worden. Andere haben an diesem Platz ihre letzte Ruhe gefunden. So spielt das Leben. So spielt der Tod.
Bei uns zu Hause wurde immer gestorben. Als ich ein Kind war, lebten die Großeltern mit uns unter einem Dach. Das hat mich tief geprägt. Meinen ersten Toten habe kurz vor dem zehnten Geburtstag gesehen. Der Vater meines Vater lag aufgebahrt im Sarg in seinem Schlafzimmer.
Meine Mutter hat sich viele Jahre lang um die Alten gekümmert. Sie hat sie betreut und gepflegt. Aufopferungsvoll möchte ich sagen. Ich habe den Umgang mit Menschen, die zu Toten wurden, kennengelernt. Der Tod macht mir keine Angst.
Tatsächlich hat mich diese Leidenschaft meiner Mutter, die Fürsorge, die Nähe und die Aufmerksamkeit zur Hospizarbeit angetrieben. Mit dem Beginn der Ausbildung wollte tatsächlich etwas ähnlich Gutes tun. Hoffentlich kann ich etwas daraus machen.
Ganz herzlich,
A
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Ein fiktionalisierter Briefwechsel über den Tod und das Sterben von Andreas Kaufmann und Sabrina Zwach