BRIEF #88
Lieber A., Deine S.
Lieber A.,
letzten Sonntag habe ich einen Spaziergang durch die noch fast menschenleeren Stadt unternommen. Ich liebe das. Der Hund treibt mich raus und da es Sonntag ist und alle ausschlafen können, kann ich mir die Stadt ansehen, mich traumwandlerisch in ihr bewegen.
Jedenfalls bin ich zurück von meiner Tour in meine Straße eingebogen und da wurde ich gestoppt, da gerade als ich mit dem Hund mein Nachbarhaus passieren wollte, eine Leiche abgeholt wurde. Die Bestatter hatten den Wagen quer auf dem Bürgersteig geparkt, die Heckklappe war geöffnet und exakt in dem Moment, in dem ich kam, kamen sie mit einer Bahre aus dem Haus, auf der eine in Tücher gewickelte Leiche lag.
Die sonntägliche Stille wurde zu einer Todesstille. Ich bildete mir ein, dass kein Vogel zwitscherte. Der Hund klemmte den Schwanz ein. Mir ist das Herz kurz in die Hose gerutscht. Ich hatte das Gefühl, dass die Aura des Todes sich für wenige Sekunden über die Straße legte. Ich wechselte die Strassenseite. Wollte nicht in die Aura treten. Nicht stören.
Die Bestatter sahen mich nicht an, beeilten sich, die Leiche sicher und zügig in den Wagen zu schieben. Stumm schlossen sie die Heckklappe und stumm stiegen sie ein und düsten los. Ich blieb noch einen Moment auf der Straße stehen, die Vögel zwitscherten wieder.
Mir war komisch zumute, beklommen.
Es wird an allen Tagen in jedem Haus gestorben, dachte ich.
Genieße also jeden Tag und pass auf Dich auf
Deine S.
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Ein fiktionalisierter Briefwechsel über den Tod und das Sterben von Andreas Kaufmann und Sabrina Zwach