BRIEF #85
Lieber A., Deine S.
Lieber A.,
ich studiere in der Zeitung regelmässig das Kästchen, in dem die Bestattungen aufgelistet sind.
Die verschiedenen Friedhöfe der Stadt - es handelt sich nicht um die Stadt, in der ich wohne - sind dort alphabetisch aufgelistet und dann die zu bestattenden Menschen für den jeweiligen Tag. Das steht immer der Friedhof, dann die Uhrzeit, der Name, der Beruf und dann das Alter. Ich studiere das Kästchen von rechts nach links. Alle Beerdigungen von Menschen über 80 kann ich irgendwie verkraften, alle Zahlen, die kleiner als 80 sind und da stehen verursachen mir Herzrasen. Dann gibt es Abstufungen: Unter 50 dann unter 30, dann unter 18. Diese Abstufungen sind an den Grad meines Herzrasens geknüpft. Niemand hat mir diese Kategorien beigebracht. Sie sind in mir als Wahrheiten. Klar ist das subjektiv, das weiß ich doch!
Letztens wurde eine Frau mit 88 beerdigt, sie war Stewardess. Das hat mir gefallen. Bei manchen Frauen stehen keine Berufe, dann denke ich mir, waren sie Hausfrauen und Mütter oder hatten ständig wechselnde Jobs oder waren reiche Ehefrauen oder Erbinnen? An ein und demselben Tag wurden 3 Verwaltungsangestellte über 80 beerdigt. Gab es da einen Zusammenhang, habe ich mich gefragt oder gibt es einfach seher viele Verwaltungsangestellte?
Am selben Tag ist ein Kammersänger mit 96 Jahren beerdigt worden. Das ist ein stolzes Alter habe ich mir gedacht.
Ich bin sehr dankbar und froh, wenn ich das Kästchen studiert habe und nicht zu viele Menschen unter 50 dabei waren.
Eine komische Angewohnheit, eine Schrulligkeit von mir, oder was denkst du?
Pass auf dich auf.
Deine
S.
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Ein fiktionalisierter Briefwechsel über den Tod und das Sterben von Andreas Kaufmann und Sabrina Zwach