Lieber A.,

seit Tagen, ja eigentlich seit Wochen verfolgt mich eine Traurigkeit, da sich eine Sandkastenfreundin – sagt man das noch so ? – meiner Stieftochter das Leben genommen hat. Eine junge Frau Anfang Dreissig ist freiwillig aus dem Leben gegangen. Es hat mich sehr traurig gemacht und auch wollte ich den Schmerz nicht auf Seiten meiner Stieftochter liegen wissen und auch hat es mich so zur Verzweiflung gebracht, dass es eben Menschen gibt, die keinen Sinn und kein Glück und kein Frieden in diesem Leben finden, Menschen die Qualen unter diesem Leben leiden. Manche Menschen haben nicht die Mittel und den Zugang sich dann in einer solchen Situation Hilfe zu suchen oder haben nicht das Umfeld, das sie versteht oder aufnimmt. Andere haben den Zugang, die Mittel und das Umfeld, aber finden dennoch nicht ihren Frieden. Meine Gedanken drehten sich seit dem im Kreis, ich konnte es nicht hinnehmen. Heute ist mir dann der Kragen geplatzt: Ich stand mit dem Fahrrad an der Ampel und studierte die Plakate und Sticker auf den Stromkästen, als mein Blick auf eine Veranstaltung fiel, die am nächsten Wochenende stattfinden soll. Eingeladen wurde zur Meditation in einem Yogazentrum mit dem Titel: "Jeder ist seines Glückes Schmied – Wie du selbst dein Glück schmiedest und Verantwortung übernimmst." Da hab ich rot gesehen, obwohl die Ampel längst grün wurde. Ich habe laut "NEIN!" gerufen und mit Wut in die Pedale getreten. "NEIN" habe ich gerufen, bis ich zu Hause war. Nein, nicht jeder Mensch ist für sein Glück und damit auch für sein Unglück selbst verantwortlich. Nein, ich kann keine Depressionen und auch eine andere schwere Krankheit durch Meditation und das richtige Mindset in den Griff bekommen. Meine Wut hat mich ganz eingenommen. Haben sich kapitalistisch motivierte Selbstoptimierung mit spirituellen Yoga- und Meditationsgruppen nun gepaart oder war das so wie so immer ein und dasselbe und nur ich war naiv? Ganz grün vor Wut bin ich umgekehrt und zurück zum Stromkasten gefahren und habe NEIN auf das Plakat geschrieben.

Mein Hund hat mich angesprungen, als ich dann zu Hause ankam und sich vor Freude, dass ich endlich da war gar nicht mehr beruhigen können. Ich hab mich auf den Fußboden gelegt und geweint. Er hat sich an mich geschmiegt und den Kopf auf meine Brust gelegt. Wir haben dann noch ein bisschen zusammen geschwiegen. So langsam komme ich zur Ruhe und meine Gedanken segeln wieder über die See. Die Sonne scheint, ich bin dankbar, dass ich hier bin und dir schreiben kann und mich auf Morgen freue.

Pass auf Dich auf!

Deine S.

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