BRIEF #69
Lieber A., Deine S.
Lieber A.,
ich schreibe Dir aus dem Krankenbett. Es ist Winter, alle sind krank, ganz klar. Ich habe mir jedoch drei Rippen gebrochen und eine beachtliche Verletzung - man spricht von einem Veilchen - im Gesicht. Der Grund: Ich bin gefallen, umgekippt. Da war es plötzlich schwarz vor meinen Augen und ich hörte mein eigenes Fallen.
Im Fallen habe ich gedacht: "Au Backe, das wird nicht gut ausgehen!" Und dann habe ich mich gesehen, das Blut und die Hämatome, die Schwellungen und Dellen und musste das verarbeiten. Das Hirn und der Körper waren nicht synchronisiert, müssen nun wieder zusammenfinden.
Ich habe ans Sterben gedacht, nicht weil ich mich in Todesangst befand, sondern, weil die Erfahrungen von Verletzbarkeit auch als Übungen für ein Ende begreife?
Dann habe ich realisert: Mein Hirn war schon oft nicht identisch mit meinem Körper.
Schon als ich zur Welt kamen, gab es ein Hirn und einen Körper. Die beiden wetteiferten um das Vorankommen, nur wohin?
Welches Ziel? Bereitet sich der Körper und unser Gehirn von Geburt an auf das Sterben vor?
Ein Paradoxon der mit dem ersten Atemzug einsetzt und in dem wir mehr oder weniger bewußt leben und in dem wir uns mehr oder weniger geschickt bewegen.
Frühe Beispiele sind: Ich sehe Schokolade - ich möchte sie essen -ich komme nicht ran - aber meine Körpergröße lässt das nicht zu - ich schiebe einen Stuhl vor das Schokoladen- Regal - vertue mich in den statischen Berechnungen - ich stürze - blaue Flecke und Strafpredigt - Ende!
Das ist eine erste Erfahrung. Darauf folgen viele mehr.
Irgendwann bin ich das größte Mädchen in der Klasse, fühle mich aber nicht so, wie ich aus der Größe resultierend behandelt werde.
Ständig wechselt dieser Körper seinen Zustand. Kind, Mädchen, Frau, Mutter, Frau in den besten Jahren - wann auch immer die sein sollen.
Und jetzt eben, Frau mit Veilchen und gebrochenen Rippen.
Jetzt möchte ich wieder gesund sein, geheilt und dann habe ich eine Erfahrung mehr mit meinem Körper gemacht.
Das wollte ich mit Dir teilen.
Pass auf Dich auf.
Deine S.
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Ein fiktionalisierter Briefwechsel über den Tod und das Sterben von Andreas Kaufmann und Sabrina Zwach