Lieber A.,

wer sagt eigentlich, dass wir das Leben gut finden müssen?

Ich will, kann aber nicht.

Ich bin darin gefangen.

Wohin ich auch sehe, was ich auch lese und womit ich mich beschäftige, alles ist gerade mit dem Beigeschmack der Apokalypse verbunden.

Gleichzeitig besteht ein Druck, dankbar zu sein und positiv zu denken, da ich - da wir - zu den Privilegierten zählen.

Beides stimmt.

Beides ist aber nicht immer, nicht jeden Tag aushaltbar.

Ich bin eigentlich Optimistin, aufgewachsen mit dem so genannten "gesunden Optimismus", aber gerade gelingt es nicht mehr. Mein Optimismus ist gerade angeschlagen, kränkelt vor sich hin. Ich habe mich also um meinen Optimismus gekümmert und festgestellt, dass es auch "toxische Positivität" gibt. Huch, hab ich gedacht, hat mich dies Phänomen erwischt?

Ich habe festgestellt, dass der Versuch, in schweren Zeiten optimistisch zu bleiben, eine gute Sache ist und mich immer begleitet hat. Es darf aber nicht bedeuten, negative Gefühle unterdrücken zu müssen. Denn durch Verdrängung kann man zwar das Symptom überdecken, aber nicht das eigentliche Problem.

Also gut, habe ich gedacht, dann darf ich jetzt also einmal loslassen und negativ denken, wütend sein, verletzt und traurig. Ich darf verzweifelt sein über die Kriege und mit Wut und Verachtung auf die Rechten reagieren und fassungslos über die Positionslosigkeit der Linken sein, ich darf Angst vor den Folgen der Klimakatastrophe haben und resignieren vor der Dysfunktionalität von Behörden, ich darf mich aufregen über Uninformiertheit, Borniertheit beim Thema Geschlechtergerechtigkeit und und und:

Ich will meinen gesunden Optimismus zurück!

Ich habe mir das so erklärt, dass der gesunde Optimismus die Kunst ist, mit negativen Emotionen auf eine konstruktive Weise umzugehen. Toxische Positivität hingegen verhindert diese notwendige Bewältigung von negativen Erfahrungen und den daraus resultierenden Emotionen.

Keiner sagt also, dass wir das Leben immer und an jedem Tag gut finden müssen.

An den meisten Tagen kann ich dem Leben aber genug Gutes Abringen.

Heute zum Beispiel, sehe ich die Schönheit des Herbstes.

Das reicht mir schon.

Alles Liebe.

Deine S.

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