Liebe S.,

bei schönem Wetter kann jeder auf den Friedhof gehen. Wenn die Sonne lacht und alles freundlich scheint.

Heute aber regnet es in Strömen. Am frühen Morgen habe ich meinem Schulkind noch einen Schirm in die Hand gedrückt obwohl es reklamierte, dass der lange Regenmantel doch eigentlich ausreichend sein müßte.

Ich hab mich selbst überrascht und bin zum Friedhof gefahren. Sollte wohl so sein.

Ich mag Regen. Immerhin ist er schon seit Wochen ein Spiegel-Bestseller. Aber ich mochte ihn schon davor und werde ihn wohl immer mögen. Fritz-Walter-Wetter, schmunzle ich.

Meinen Schirm lasse ich im Auto. Die Wollmütze muß genügen. Ein Mütze hilft fast immer.

Bei Regenwetter ist der Friedhof saftiger. Keiner muß gießen. Auch das Grabpflegegeschwader ist nicht im Einsatz. Wenige Frauen und Männer nur sind unterwegs, mit Schirmen, ohne Mützen. Kalt ist es nicht. Nur nass.

Das Immergrün auf dem Familiengrab glänzt saftig. Ein kurzes Gespräch. Dann höre ich den Regentropfen zu, rundherum ein variantenreiches Getrommel.

Die Sandsteinmauer nahe der Grabstätte hat sich durch die Nässe in eine Landkarte verwandelt.

Ich bin allein. Und so konzentriert wie sonst kaum. Der Regen bindet mich. Und er tut gut. Ich genieße die Frische. So halte ich inne bis ich mich verabschiede.

Zurück am Wagen bin ich klitschnass. Ich muss mich umziehen. Aber bei schönem Wetter kann jeder auf den Friedhof.

Dein A.

Vorheriger Brief:

BRIEF #58