BRIEF #29
Lieber A, Deine S
Lieber A.,
Deinen letzten Brief habe ich vor mir, habe ihn gerade noch einmal gelesen und das unangeneheme Gefühl, das Erschauern über Menschenmögliches sitzt mir noch immer in der Magengegend.
Der gewaltsame Tod ist ja per Definition kein Natürlicher und erscheint, wie die Katastrophe in der Katastrophe.
Ich frage mich, ob man anders trauert? Ich würde bestimmt anders trauern, würde ich einen geliebten Menschen durch einen gewaltsamen Tod verlieren und du?
Mich hat vor einigen Jahren eine Geschichte sehr bewegt:
An Weihnachten, am 26. Dezember 2004 traf der Tsunami die Insel Phuket und riss abertausende von Menschen in den Tod.
Eine Tragödie. Auf der Heimreise von meinen Weihnachtsferien las ich in der Süddeutschen-Zeitung wie immer die Münchner Todesanzeigen. Eine Frau veröffentlichte den Verlust ihres Mannes und ihrer beiden Töchter in Phuket am 27.12.2004.
Es traf mich ins Mark. Meine Tochter sass neben mir im ICE und kruschtelte in ihren Weihnachtsgeschenken, sie verstand nicht, warum ich mir die Tränen aus dem Gesicht wischen musste und mich gar nicht mehr beruhigen konnte. Ich stellte mir die Heimreise der Frau vor. Die endlosen einsamen Stunden im Flugzeug, das Aufschließen des Hauses - sicher war es ein Haus - in München, die leerstehenden Kinderbetten, die Materie gewordene Sinnlosigkeit der Gummistiefel, Laufräder, der Schulranzen und Plüschtiersammlungen. Und dann ist da kein Partner, kein Mann, kein Vertrauter und Freund mehr. Das Bett ist leer. Das Rasierzeug muss weg. Der Koffer wird ausgeräumt? Die letzten Klamotten werden aufgehängt? Die Beerdigung wird organisiert für 2 Kinder und einen Mann. Schwiegerelter und Eltern, Freundinnen, Arbeitskolleginnen, Nachbarn müssen informiert werden. Wie kann diese Frau das leisten?
Ich war erschüttert und habe immer wieder an die Frau und ihr Schicksal gedacht. Den Namen habe ich mir gemerkt.
Etwa zwei Jahre später habe ich - der Zufall wollte es so - wieder auf einer Zugfahrt die Süddeutsche-Zeitung gelesen und die Anzeige einer Hochzeit bemerkt. Die Frau, deren Schicksal mich beschäftigte, hatte geheiratet. Ich konnte es kaum fassen. Und dann las ich die Sensation: Die Frau besuchte eine Selbsthilfegruppe der Tsunami-Hinterbliebenen und dort lernte sie einen Mann kennen, der seine Frau und die Kinder verloren hatte. Die beiden verliebten sich. Die Frau war zum Zeitpunkt der Eheschließung schwanger. Ich freute mich so sehr, stieß einen kleinen Freudenschrei aus und las die Anzeige immer wieder und wieder. Die Landschaft sauste an mir vorbei oder ich an der Landschaft, ich konnte es für einen Moment nicht erkennen, war eins mit der Welt und freute mich, dass es sie doch gab, die guten Geschichten, die mich erschauern lassen über Menschenmögliches.
Sei umarmt und pass auf dich auf.
Deine
S.
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