Liebe S.

meine jüngste Tochter geht in die erste Klasse. Seit einem guten halben Jahr saugt sie neues Wissen auf wie ein Schwamm und kann inzwischen schon beachtlich gut lesen und schreiben. Und sie liest und schreibt was das Zeug hält. Welche Freude, jeden Tag ihre Fortschritte mitzuerleben.

Was für ein gewaltiger Schritt vom Kindergarten ins Klassenzimmer. Die Gemeinschaft mit neuen Mitschülerinnen und Mitschülern bietet die spannendsten Erlebnisse zu Beginn der Schulzeit. Ein kleiner Mensch sucht und findet mehr und mehr seinen Weg.

Vor einigen Tagen kam das Mädchen kreuzunglücklich nach Hause. In der Schule hatte sie eine Blume geschenkt bekommen. Weil aber eine Mitschülerin über alle Maßen traurig wirkte, dass sie leer ausgegangen war, wurde meine Tochter gebeten, das Blümchen an das Kind, eine Freundin, weiterzugeben. Dieses hatte aber so gar keine Freude an der Gabe, sondern zerdrückte die Pflanze im nächsten heimlichen Moment mit ihrem Schuh auf dem Boden.

Dieser Akt der Boshaftigkeit hat meiner Erstklässlerin schwer zu schaffen gemacht. Tränenreich erzählte sie von den Vorkommnissen. Sie war kaum zu beruhigen. Ganz aufgelöst beschäftigte sie sich lange lautstark mit ihrer Geschichte. Bis sie irgendwann still in ihrem Zimmer verschwunden war. Als ich nach ihr schaute, hockte sie auf dem Teppich in der Mitte des Raumes. Vor ihr stand eine kleine Vase in der eine bunte Papierblume steckte, die sie selbst gebastelt und angemalt hatte. Davor lagen kleine Zettel auf denen ‚Blume’ und ‚tot‘ zu lesen war. Als ich sie fragend ansah, klärte sie mich auf, das hier die Beerdigung der verstorbenen Pflanze stattfinde. Sie war immer noch traurig, aber ruhiger. Dieses selbst inszenierte Ritual konnte ihr offensichtlich helfen, langsam aus dem Unglück herauszufinden.

Am übernächsten Tag brachte ihr eine andere Freundin, die sie in ihr Entsetzen eingeweiht hatte, ein kleines Blumensträußchen mit zur Schule. Kleine Geste, große Wirkung. Wenn dies jemand zu schätzen weiß, dann, welch Glück, meine Tochter.

Alles sprießt und blüht und wächst und leuchtet. Wie belebend, dass Frühling ist.

Die Freundinnen sind übrigens alle wieder gut miteinander.

Flowerpower,

Dein, A.

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BRIEF #122