Lieber A.,

am 14. Geburtstag meiner Stieftochter ist mein Bruder gestorben. Am 38. Geburtstag meines Mannes, wurde mein Bruder beerdigt. Die Gleichzeitigkeit der Lebensereignisse habe ich als extreme Verarbeitungsleistung, als Überforderung empfunden. Die Erwartung, dass die Dinge des Lebens still stehen und sich Tragisches und Heiteres nicht überschneiden dürfen, war falsch, aber bis zu dieser Koinzidenz vorhanden. Die Menschen um mich herum, haben oft gesagt, dass das eben das Leben sei, dass man sich nichts aussuchen könne. Das hatte ich dann auch begriffen. Merkwürdig ängstlich bin ich nach dieser Erfahrung im Leben unterwegs, mit der ständigen Gewissheit, dass man sich nichts aussuchen kann, mit der Sorge, dass ständig alles passieren kann. Andere sind gelassener. Diese Gelassenheit beneide ich. Denken andere jeden Tag an die Möglichkeit, dass jederzeit alles vorbei sein kann? Denkst du so?

Eine andere Sache hat mich – nachdem mein Bruder gestorben ist – beschäftigt und zwar die Zuschreibung von Anderen darüber, für wen der Tod des jeweils Verstorbenen "am schlimmsten" sei. Diese Zuschreibung hat jedes Mal stattgefunden, wenn ein Mensch in meinem Umfeld gestorben ist und ich habe sie nie verstanden. Wem bringt dies Ranking etwas und wer kann von außen eine solche Zuschreibung vornehmen?

Ebenfalls von außen wird formuliert, wie lange man trauern soll. Das habe ich oft gehört, dass Menschen sagte, jetzt ist der oder jener schon beispielsweise 6 Monate tot, jetzt müsse man doch allmählich wieder zur Normalität übergehen. Aber welche Normalität? Wenn sich die Normalität verändert, weil eine Person fehlt, kann man ja nicht zurück? Man muss ja eine neue Normalität schaffen, oder?

Je älter ich werde, desto mehr wird mir natürlich bewußt, dass es immer weiter kontinuierlich Menschen um mich gibt, die sterben und sterben werden. Das ist die Normalität. Das muss ich akzeptieren. Ich versuche zur Gelassenheit zu finden und doch nichts auszublenden, nichts wegzudrücken. Und doch gehe ich an manchen Tagen durch die Strassen und denke: "Wir werden alle sterben, wisst ihr das? Warum geht ihr hier so furchtbar gelassen durch die Straßen?"

Das Leben ist schön. Jeder Tag zählt. Das denke ich und mit diesem Gefühl habe ich Dir heute geschrieben.

Sei fest umarmt.

Deine S.

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