Liebe S,

ich besuche immer wieder meinen Vater.

Er wohnt gleich nebenan. Inzwischen ist er 94 Jahre alt. Als 16jähriger kam er zum Arbeitsdienst, wurde dann eingezogenen und 1944 in den Krieg geschickt. Er war in Gefangenschaft. Und ist wieder nach Hause gekommen. Er hat überlebt.

Mein Vater hatte einen älteren Bruder. Ernst-Dieter, gerufen wurde er Dieter. Dreieinhalb Jahre trennten die beiden. Auch Dieter war im Krieg. Aber er ist nicht heimgekehrt. Er ist gefallen.

Dieter war 19 als er starb, 19 Jahre jung. Vor wenigen Tagen erst ist mir bewußt geworden, dass er sein Leben in der Ukraine gelassen hat, im Süden bei Sporoshje am Fluß Dnjepr, im September 1943. Vom Sommer an bis Dezember lieferten sich die Deutsche Wehrmacht und die Rote Armee eine schreckliche Schlacht, der Hunderttausende von Soldaten auf beiden Seiten zum Opfer gefallen sind. Im November befreite die Sowjetunion Kiew von den deutschen Besatzern. Nichts als Verwüstung und Trümmer und Tod und Elend und Hoffnungslosigkeit weit und breit.

19. Was hätte aus Dieter werden können ? Wie wäre sein Leben verlaufen ? Mit 19 hätte er noch alles vor sich gehabt. Hätte etwas aus sich machen können. Hätte bestimmt die Lieben seines Lebens kennengelernt. Er hätte auf dem rechten Weg bleiben oder auch abseits gehen können. Er hätte Erwartungen erfüllt oder enttäuscht. Er hätte Gutes getan und Fehler gemacht. Er hätte gelebt.

Ich besuche immer wieder meine Mutter.

Sie hat Ihre letzte Ruhe in unserm Familiengrab am Bergfriedhof gefunden. Dort ist es friedlich und sonnig. Auf der Grabplatte ist auch Dieters Name verewigt. Zur Erinnerung, obwohl er dort nicht bestattet werden konnte.

19. Immer wieder, immer wieder, immer wieder die gleiche Geschichte.

Dein A

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