BRIEF #92
Lieber A., Deine S.
Lieber A.,
ich war wieder auf dem Bergfriedhof und habe dort das Grab meines Bruders besucht. Im selben Familiengrab liegen auch meine Urgroßeltern, meine Cousine, meine Großtante, mein Onkel. Es ist das Grab meiner Familie väterlicher Seits. Ich mag das Grab. Es ist immer viel los, wenn ich dort bin. Also nicht in der so genannten Wirklichkeit, sondern in mir und atmosphärisch. Das Grab ist ein auratischer Ort. Es fühlt sich friedlich an, fast freudvoll. Ich wende mich gedanklich an meinen Bruder, kommuniziere nonverbal. Da kommt natürlich nichts zurück. Manchmal erfasst mich dann eine tiefe Trauer, manchmal fühle ich mich durch den Besuch am Grab gestärkt. Es fühlt sich jedenfalls ganz anders an, als wenn ich vor dem Grab meiner anderen Großeltern - den Eltern meiner Mutter - stehe. Ich habe sie sehr geliebt und war ihnen mein Leben lang nah. Ausschließlich die beiden liegen darin. Vereint, wie sie ihr ganzes Leben stark vereint waren. Das Grab ist kalt, eher dunkel, es ist ein trauriger Ort. Und das Grab ist nur wenige Meter vom anderen Grab, dem meines Bruders entfernt. Wie kann das sein? Was ist anders? Ist das bereits esoterik oder wie kann ich mir das erklären?
Nach meinem letzten Besuch habe ich bemerkt, dass ich mit meiner Familie noch nicht besprochen habe, wo und wie ich sein will, nach meinem Tod.
Schon merkwürdig, dass ich noch keine Vorstellung dazu formulieren kann.
Weißt du schon, wie es nach deinem Tod mit dir weitergehen soll?
Welche Gedanken machst du dir darüber?
Schreib mir und pass auf dich auf!
Deine S.
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Ein fiktionalisierter Briefwechsel über den Tod und das Sterben von Andreas Kaufmann und Sabrina Zwach