BRIEF #67
Lieber A, Deine S
Lieber A.,
ich probe gerade und stehe kurz vor der Premiere. Viele unschöne Dinge sind während den Proben passiert, Schauspieler sind ausgestiegen, krank geworden, die Stimmung war schlecht und ich bin in den letzten Tagen gestürzt und schleiche nun mit einem Veilchen durch die Gegend und so fragte man sich schon leise und hinter vorgehaltener Hand, ob ein Fluch auf dem Stück liegen könnte.
Der Aberglaube im Theater ist weit verbreitet und eine große Kraft.
Probt man beispielsweise Macbeth, dann sagt man niemals den Stücktitel, sondern spricht von „The Scottish Play“. Die Aufführungsgeschichte liest sich tatsächlich wie ein Thriller. Während der Uraufführung starb der Junge, der Lady Macbeth spielte, hinter der Bühne und Shakespeare musste die Rolle selbst übernehmen. In Amsterdam wurde der präparierte Theaterdolch mit einem echten verwechselt und bescherte dem Publikum eine schockierend realistische Sterbeszene. Diana Wynyard schlafwandelte als Lady Macbeth über die Bühnenkante und fiel fast fünf Meter in die Tiefe. Am Old Vic in London wurde Macbeth-Darsteller Laurence Olivier beinahe von einem herabfallenden Gewicht erschlagen und die Intendantin Lilian Baylis verschied einen Tag vor der Premiere. Noch schlimmer erging es der Inszenierung von John Gielgud, bei der drei Schauspieler ums Leben kamen und der Kostümbildner nach der Premiere Selbstmord beging. Nur wenig später erlitt Schauspieler Harold Norman in Manchester eine tödliche Stichwunde auf der Bühne. Bei einer Macbeth-Inszenierung von Stanislawski fand man den Schauspieler der Titelrolle tot in der Garderobe. Bei so viel Tod kann kein Zufall im Spiel sein und daher ist Aberglaube mehr als angebracht.
Und so gibt es im Theater viele Regeln:
Eine der verbreitetsten Regeln ist es, dass man im Theater nicht pfeifen darf. Dieser Aberglaube kommt aus der Zeit, als es noch Gasleuchter im Theater gab; der pfeifende Ton verwies darauf, dass Sauerstoffmangel herrschte. Außerdem darf man bei Fritsch und andernorts nicht auf der Bühne essen, nicht mit Mantel und Hut auf die Bühne kommen, nicht an Sonntagen proben, das letzte Wort der Inszenierung nicht vor dem Tag der Premiere aussprechen, nicht Danke auf ein Toi Toi Toi antworten und am allerschlimmsten ist es, einen Hut auf ein Bett zu legen. Das bedeutet, dass der Besitzer bis zum Ende des Tages gestorben sein wird.
Theatermenschen sind abergläubisch, die Angst ist nicht immer mit dem Tod verbunden, sondern mit dem Scheitern, was eben auch eine Todeserfahrung für manche bedeutet.
Das Scheitern kann immer drohen. Das Scheitern ist nicht kalkulierbar, so wie der Tod jederzeit an jedem Tag kommen kann.
Wie steht es mit Dir und deinem Aberglauben?
Pass auf dich auf
Deine S.
Nächster Brief:
Vorheriger Brief:
Projekte
Briefe vom Anfang über das Ende
- Andreas Kaufmann
- Sabrina Zwach
- Luise Wilhelm
Ein fiktionalisierter Briefwechsel über den Tod und das Sterben von Andreas Kaufmann und Sabrina Zwach