Lieber A.,

ich habe die Duineser Elegien wiedergelesen. Ich werde belächelt, wenn ich sage, heute habe ich Rilke gelesen.

Diese Gedichte sind aber immer wieder Begleiter, Texte die mich erreichen, beruhigen, verwirren, erregen.

Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein.
Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.

Der Vorgang des Lesens ist mir immer wieder, wenn ich ihn mir vergegenwärtige ein Wunder. Da sitzen Menschen mit einem Ding in der Hand auf sagen wir einem Stuhl und sind ganz still und dabei sind sie in einer vollkommen anderen Welt eingetaucht und wir haben keine Ahnung, wo sie sich in welcher Erregung gerade befinden.

Rilke hat die Duineser Elegien zwischen 1912 und 1922, während des ersten Weltkrieges geschrieben. Einzig die vierte Elegie ist während des Krieges entstanden, insgesamt sind es zehn. 1915 wurde er gemustert und musste selbst einrücken. Im Juni 1916 erhält Rilke dank der Fürsprache einflussreicher Freunde die Entlassungspapiere vom Militärdienst. Sein Schaffen aber versiegt in den folgenden Jahren fast ganz.

Rilke schreibt in einem Brief über die Kriegsjahre: "Ich war fast alle Jahre des Krieges abwartend, immer denkend, es müsse ein Ende nehmen, nicht begreifend nicht begreifend! Nicht zu begreifen: ja, das war meine ganze Beschäftigung diese Jahre“.

Und nun sind wir über hundert Jahre von Rilke entfernt und das Nichtbegreifen ist dasselbe.

Ich schicke dir viele Grüße. Es ist kalt geworden.

Pass auf dich auf.

Deine S.

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