BRIEF #04
Lieber A, deine S
Lieber A.,
nun bin ich in Davos in den Bergen, im Schnee, im Ort, an dem selbstverständlich nicht nur geurlaubt und geheilt, sondern auch gestorben wird und wurde. Prominent. Du weißt, wie sehr ich Friedhöfe mag und natürlich habe ich auch den in Davos besucht: Den Waldfriedhof, der auch teilweise ein jüdischer Friedhof ist, wie ich auf einer Gedenktafel lesen konnte. Nachdem sich der Schweizerische Israelitische Gemeindebund ab den 1910er-Jahren dafür eingesetzt hatte, wurde dem Waldfriedhof ein jüdischer Friedhof hinzugefügt. Dieser fand im Oktober 1931 erstmals für ein jüdisches Begräbnis Verwendung; ein junger Mann wurde beigesetzt.
In den ersten Jahren wurden dort - auf dem jüdischen Friedhof - vorwiegend in Davos verstorbene Menschen beerdigt. Dabei handelte sich zum grossen Teil um Lungenkranke aus verschiedenen Ländern, die sich in Davos Heilung von ihrem Leiden erhofft hatten. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges waren bereits 50 Gräber belegt. Während und nach dem Krieg starben im Ort auch Geflüchtete, welche die Grenze legal oder illegal überschritten hatten.
Ende 1950 zählte man auf dem Friedhof 110 Gräber, darunter eine Grabstätte besonderer Art:
Im Jahr 1945 wurden Überreste menschlicher Asche und Knochen unbekannter Juden aus dem Konzentrationslager Buchenwald nach Davos verbracht und dort am 6. September 1946 beigesetzt. Ein Gedenkstein, der an dieses traurige Kapitel der Menschheitsgeschichte erinnert, befindet sich rechts vom Eingang zum Friedhof.
Und da habe ich mich gefragt, was mit mir werden soll, wenn ich tot bin? Soll ich entscheiden oder die Zurückbleibenden? Ist es eine Zumutung für diese zu entscheiden, wie man sich meines Körpers entledigt? Ist es mehr als das? Ist es allzu eitel, alles zu Lebzeiten schon festzulegen? Ist es egal? Hast du bereits alles entschieden? Ich bin nicht konfesionell gebunden, gehöre keiner Religionsgemeinschaft an, welche Rituale gibt es für mich? Brauche ich ein Ritual oder nur die Anderen? Brauche ich ein Ritual oder braucht es meine Seele?
In Davos flüsteret man sich zu, Putins Frau und seine Kinder seien dort in einer Villa in Sicherheit gebracht worden. Überall spukte das Gerücht durch das verschlafene Dörfchen. Meine Neugier war entfacht, meine Fantasie noch mehr. Was würde ich tun, wenn ich vor Frau Putin stünde? geht sie einkaufen? Müsste man Überzeugungsarbeit leisten, müsste man der Frau erklären, warum ihr Mann einen strafbaren Angriffskrieg führt, der zu tausendfachem grundlosen Tod führt? Müsste man sie entführen? Putin erpressen? Am 4. Februar 1936 erschoss der 26-jährige David Frankfurter den Chef der Auslandsorganisation der NSDAP, Wilhelm Gustloff, in Davos. Der Schütze geriet leider nach wenigen Jahren in Vergessenheit. Alles sinnlos? Hoffnungslos?
Ich hab Frau Putin nicht getroffen.
Diese Zeilen habe ich Dir dennoch schreiben wollen, aus Davos.
Sei herzlich umarmt
Deine S.
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Ein fiktionalisierter Briefwechsel über den Tod und das Sterben von Andreas Kaufmann und Sabrina Zwach